Die Freunde vom NEUEN FORUM haben vorige Woche angefragt, ob ich Zeit habe, um Akten zu transportieren im ehemaligen Stasi-Objekt. Ja, ich habe diese Zeit. In der Einrichtung, in der ich bis jetzt noch angestellt bin, gibt es nichts mehr zu tun, denn dieses Bezirkskabinett für Kulturarbeit, ein Produkt des "demokratischen Zentralismus", wird es demnächst nicht mehr geben. Es hat seine Legitimation durch die friedliche Revolution verloren. Mein schizophrener Zustand, in den poststalinistisch geprägten Strukturen der DDR "freiwillig" als Kulturarbeiter eingebunden, aber unfreiwillig den Dogmen der Staatspartei ausgesetzt zu sein, schwindet dank der Veränderungen seit Herbst 1989. Der Wille, die Deformationen mit zu beseitigen und Neues zu gestalten, gibt mir die Kraft für die Arbeit im Bürgerkomitee "Auflösung MfS". Ab morgen werde ich dort mitarbeiten. | |
Gestern früh, kurz nach 8.oo Uhr, betrat ich zum ersten Mal das Gebäude der Frankfurter Stasi-Zentrale (Heute: Robert-Havemann-Straße). Nachdem ich mich in der Besucheranmeldung telefonisch mit Frau Fuchs (NEUES FORUM) verständigt hatte, wurde ich von einer jungen Frau abgeholt und in die oberste Etage des Hauses 2 geleitet. Dort, im Zimmer 615, saßen bereits mehrere Bürger, die alle mit der gleichen Absicht hier erschienen waren wie ich. Von einer Frau Staatsanwältin wurden wir über die Sicherheitsproblematik belehrt und bestätigten dies per Unterschrift. So begann mein erster Arbeitstag in der Arbeitsgruppe Akten/Unterlagen des Frankfurter Bürgerkomitees. Die Auflösung der Bezirkszentrale des ehemaligen MfS hatte vor Wochen bereits begonnen, wird seitdem durch die Bürgerbewegung NEUES FORUM mitbetrieben und soll Ende März 1990 abgeschlossen sein. Solange will ich dabeisein und mittun. Ich fühle Genugtuung, auf so direkte Art und Weise den Verlauf unserer friedlichen Revolution mitgestalten zu können und spüre ihn am ersten Tag fast körperlich, den heissen Atem der Geschichte. Die Aufgabe der AG Akten/Unterlagen lautet ganz prosaisch: Transport der Akten aus dem Archiv (Haus 2) in den Bunker, zwei Etagen unterm Keller. Zur Arbeitsgruppe gehören zwei Offiziere der Kriminalpolizei, zwei Offiziere der Volkspolizei, ein Mitglied der Bezirksstaatsanwaltschaft, ein Mitarbeiter des Staatsarchivs Potsdam sowie in wechselnder Anzahl Frankfurter Bürger, die sich für die Mitarbeit im Bürgerkomitee "Auflösung MfS" freistellen lassen bzw. von Einrichtungen delegiert werden für einen oder mehrere Tage. Heute vormittag nahm ich als Vertreter der SDP an der Beratung der Ko | |
"Der Schild und das Schwert der Partei" - so bezeichnete sich das DDR-Ministerium für Staatssicherheit selbst - zerbröckelt von Tag zu Tag mehr. Seine Bestandteile werden vom Volk registriert, gebündelt, eingebunkert und gesichert. | |
Die Strukturen des Machtinstruments MfS dürfen nicht mehr restauriert werden können. Täglich wird Stück für Stück durch die Arbeit des Bürgerkomitees demontiert. So schnell wie möglich soll es nur noch die notwendigen Erinnerungen an diese Parteipolizei geben. Deren grosse Dokumentensammlung wird durch unsere AG umgelagert. Ein brisanter Sprengstoff liegt täglich in meinen Händen. Was wird wohl aus ihm werden? Ein seltsames Sammelsurium aus Protokollen, Quittungen, Berichten, mitunter auch Fotos, wurde hier angehäuft. Diese Informationen ergeben zusammengesetzt ein Mosaikbild, das ständig durch neue Informationen ergänzt wurde mit Hilfe von IM's, den sogenannten "Inoffiziellen Mitarbeitern". Die Akten waren ein Instrument bei der Durchsetzung der menschenverachtenden Sicherheitsdoktrin. Demokratische Entwicklungen wurden durch Anwendung der "Klassenfeindtheorie" zerschlagen. Entmündigung und Entwürdigung war das Produkt der "Arbeit" des MfS und der SED-Führung. | |
Heute konnten wir die Umlagerung der Aktenjahrgänge 1952 bis 1960 melden. Übereinandergelegt erreichen sie eine Höhe von ca. 45 Metern. Nach Schätzungen des Staatsarchiv-Mitarbeiters befinden sich ca. 2.500 lfd. Meter Akten noch oben im Archiv. Beim Umlagern gehen wir arbeitsteilig vor - ein Teil unserer Gruppe bündelt Akten, ein zweiter Teil befördert sie nach unten und dort durch die Gänge des Bunkers in die Lagerräume, ein dritter Teil unserer Arbeitsgruppe stapelt diese ungeheuren Papiermengen geordnet in die Regale. | |
Unsere Arbeit ist ins Stocken geraten. Der Fahrstuhl ist defekt. Also stapeln wir vorerst die Aktenbündel im Flur des Archivs, in leeren Büroräumen, z.T. sogar wieder in den Hebelschubanlagen. Seit gestern bündeln zwei Gruppen, denn wir haben Verstärkung erhalten - zwei Frauen vom VdgB-BV, zwei Männer vom FDGB-BV und einer vom Kulturbund helfen mit. Belastend für uns alle sind die Bedingungen: der Papierstaub und die trockene Luft in den Archivräumen. Dazu kommt die Monotonie der Arbeit: das Herausheben der Akten aus den Archivanlagen, das Schreiben von tausenden Deckblättern für die Aktenbündel, das Binden der Bündel mit Plastikschnur, das Abtragen, das Ein- und Ausladen der Rollwagen, das Befördern durch Treppenhaus und Bunkergang, das mühevolle Einsortieren entsprechend der laufenden Bündelnummer im Bunker - all das bewältigen wir Tag für Tag, Woche für Woche. Ein unspektakuläres Szenarium innerhalb unserer Revolution, die noch immer die Welt in Atem hält. Die tägliche Wiederkehr unserer Arbeitsvorrichtungen gerät in diesen Tagen zur Routine, an deren weltpolitische Bedeutung wir uns während des Zeitunglesens in den Kaffeepausen erinnern. Auch dadurch speisen wir unsere Arbeitsmoral, die im Trott der Tage schwankt. | |
Das Gebäude der Bezirksverwaltung, dieses MfS selbst hat inzwischen für mich seinen Mythos verloren. Täglich sehe ich ehemalige Mitarbeiter, die im Gebäude noch mit der Auflösung beschäftigt sind. Ich schaue ihnen in die Augen und erkenne ihren moralischen Zustand - ein Gemisch aus Unterwürfigkeit, Trotz und Enttäuschung, aber noch immer ein kleines Glimmen von Bereitschaft auf die Rückkehr zur alten Zeit. Das ist es, was meine Aufmerksamkeit trotz Routine immer wieder neu belebt. | |
Seit Tagen tragen die Herren des ehemaligen sogenannten "Anti-Terror-Kommandos" die schweren Säcke mit den Aktenbündeln hinunter in den Bunker. Für diese kraftsportliche Leistung gebührt ihnen durchaus Respekt. Der Fahrstuhl ist stillgelegt, eine Reparatur nicht mehr möglich. Unsere AG leert nun die letzte Hebelschubanlage. Bis Freitag werden wir das Archiv geräumt haben. ROLAND TOTZAUER Mitglied des Frankfurter Bürgerkomitees "Auflösung MfS" Leiter AG Akten/Unterlagen Abkürzungen:
Ein kostenloses Download-Angebot:
Die Kopie meines Tagebuches kann man hier als PDF-Datei (1,1 MB) herunterladen oder den folgenden Link kopieren und per Mail versenden: www.rotofo.de/stasi/tagebuch1990.pdf Anmerkung 1: Mein Stasi-Auflöser-Tagebuch veröffentlichte ich im Sommer 1990 in der Nr. 1 der Zeitschrift "Spiritus - Das unabhängige Kulturmagazin der Oderregion". Die Idee zu dieser Zeitschrift entwickelte ich im November und Dezember 1989. Die Zeitschrift erschien dann ab 1990 erstmals und nur für eine relativ kurze Zeit in einer Edition am Haus der Künste in Frankfurt (Oder). Anmerkung 2: Alle Protokolle aus der Zeit der Stasi-Auflösung habe ich im März 2006 an den Leiter der BStU-Außenstelle Frankfurt (Oder) übergeben. Bei der Auflösung fand ich damals im Frankfurter Stasigebäude verschiedene Stasi-Orden, die ich an die BStU-Außenstelle Frankfurt (Oder) weitergereicht habe. Anmerkung 3: Am 05. Dezember 2009 fand in Potsdam eine Veranstaltung anlässlich des 20. Jahrestages der Besetzung der Stasi-Zentralen in der Gedenkstätte Lindenstr. 54/55 statt. Im Jahr 2010 wurden die Beiträge der geladenen Zeitzeugen und die Recherchebeiträge in einer 74-Seiten-Broschüre veröffentlicht unter dem Titel "Die Herausbildung von Bürgerkomitees im Land Brandenburg und ihre Bedeutung für die Entstehung demokratischer Strukturen". Auf den Seiten 10 bis 17 wird über die Besetzung der MfS-Bezirksdienststelle in Frankfurt (Oder) berichtet. Die Broschüre kann hier als PDF (635 KB) heruntergeladen werden. Empfehlung Nr. 1: Die Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur hat im Januar 2017 das Portal "Zeitzeugen" eröffnet. Das Portal richtet sich an all diejenigen, die mehr über die Menschen erfahren wollen, die in der Zeit von 1945 bis 1989 auf dem Gebiet des Landes Brandenburg Widerstand leisteten, politische Verfolgung erlitten und Unrecht oder Willkür der SED-Herrschaft erlebten. [Zum Portal "Zeitzeugen"] Empfehlung Nr. 2: Video-Film "Oktoberfrühling" (VHS, 50 Minuten) Dieser Film entstand parallel zu den Zeitereignissen im Oktober und November 1989 vor allem in Frankfurt (Oder), produziert von Mitarbeitern des Amateur-Film-Centrums. Die erste öffentliche Aufführung erfolgte am 16.12.1989. Durch seine Entstehungszeit ist nicht nur der Inhalt, sondern auch die Gestaltung des Films von der Atmosphäre der Herbst-Ereignisse des Jahres 1989 geprägt. Die Autoren nannten ihren Film "Oktoberfrühling - Dokumente eines Aufbruchs - Frankfurt (Oder) 1989".
Empfehlung Nr. 3:
Die DDR - Eine Geschichte von der Gründung bis zum Untergang Gut 40 Jahre lang, von der Gründung im Oktober 1949 bis zu ihrem Untergang mit der Vereinigung beider deutschen Staaten 1990, bestand die Deutsche Demokratische Republik: Sie war aus der Sowjetischen Besatzungszone hervorgegangen, und die Sowjetunion prägte, förderte und schütze den jungen Staat maßgeblich. Dessen politisches, wirtschaftliches und kulturelles System war von Planwirtschaft, Einheitspartei, gelenkter Presse und dem staatlichen Wahrheitsmonopol bestimmt. Wie lebte es sich in der DDR, dem von Idealisten ebenso wie von Machtstrategen geformten "besseren Deutschland"? Der Autor Stefan Wolle wendet sich dem Alltag der Menschen in der DDR zu: Schwungvoll, zuweilen ironisch und äußerst kenntnisreich beleuchtet er den wechselvollen Weg der DDR: den mühsamen Aufbruch nach Kriegsende, das fragwürdige Agieren des Regimes im Spannungsfeld zwischen politischer Anerkennung, ökonomischem Erfolg und erzwungener Linientreue der Bürger, die harsche Abgrenzung von der Bundesrepublik und die allmähliche Sklerose in Wirtschaft und Gesellschaft. Bitte bestellen bei: www.bpb.de - Schriftenreihe (Bd. 1517)
Empfehlung Nr. 4:
Im Video-Portal YOUTUBE beantwortet Dr. Stefan Wolle zahlreiche Fragen zur DDR. Er erläutert Begriffe und Zusammenhänge Frag Dr. Wolle
Empfehlung Nr. 5:
30 Jahre nach dem Mauerfall veröffentlichte die Märkische Oderzeitung am 11. Oktober 2019 meine Erinnerungen an das Mauerfall-Wochenende 1989 unter der Überschrift: "Nach Westberlin zu Kleists Grab". | |
Weiterführende Internetadressen:
|